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Rotkäppchen in Dortmund


Es war einmal ein junger Mann, der leistete voll Stolz seinen Wehrdienst bei der Bundeswehr. Während seine Freunde und seine Familie überzeugte Pazifisten waren, trug er voll Stolz seine Dienstuniform mit rotem Barett. So bekam er den Spitznamen Rotkäppchen.

Als er wieder einmal an einem Wochenende nach Hause fuhr, beschloss er, seinem Großvater in Dortmund-Berghofen einen Überraschungsbesuch abzustatten. Er hatte seinen Großvater schon lange nicht mehr gesehen, und dieser würde sich sicher freuen, seinen Enkel zu sehen.

Als Rotkäppchen nun am Dortmunder Hauptbahnhof ankam, traf er dort Sabine, eine frühere Schulfreundin, die an der Universität Dortmund das Studium der Sonderpädagogik begonnen hatte. Sabine hatte schon früher ein Auge auf Rotkäppchen geworfen und so witterte sie ihre Chance, mit ihm endlich intim zu werden. "Ich besuche meinen Großvater, der wird sich sicher freuen", sagte Rotkäppchen zu Sabine, "Zum Postamt in Berghofen muß ich mit dem Bus fahren, doch ich kenne den Fahrplan der Stadtwerke nicht. Soll ich die U-Bahn nach Hörde oder die nach Aplerbeck nehmen?".

"Du hast Deinen Großvater wohl lange nicht mehr besucht" erwiderte Sabine, "das Postamt in Berghofen gibt es nicht mehr, auch die Bushaltestelle hat man umbenannt. Und die Dortmunder Stadtwerke heißen jetzt DSW21. Um nach Berghofen zu kommen, steigst Du am besten in Aplerbeck um. Man hat die Haltestelle umgebaut, so daß Du nur noch wenige Schritte gehen musst."

Nun muß man wissen, daß der Großvater von Rotkäppchen sich zu Menschen beiderlei Geschlechts hingezogen fühlte. Aufgewachsen in der unmittelbaren deutschen Nachkriegszeit, hatte er die Blüte seines Lebens zu einer Zeit gelebt, in der gleichgeschlechtliche Liebe bei Zuchthausstrafe verboten war. Erst als Rentner hatte er sich von seiner Ehefrau getrennt und war mit einem Mann und einer Frau in einer glücklichen 3er-Beziehung zusammengezogen.

Da die Forderungen der Lebensformenpolitik der 90er-Jahre sich nicht durchgesetzt hatten, lebten sie ohne den Segen des Staates und den damit verbundenen rechtlichen Vorteilen zusammen. An diesem Wochenende waren die drei rüstigen und lebensfrohen Alten nach Köln aufgebrochen, um auf dem Christopher-Street-Day für ihre Rechte zu demonstrieren. Schon früh am Morgen waren sie mit dem Regionalexpress am Dortmunder Hauptbahnhof abgefahren.

Sabine kannte den Großvater von Rotkäppchen und dessen Lebensumstände. Weil sie wusste, daß die drei erst spät nach Hause zurückkehren würden, hatte sie Rotkäppchen den längeren Weg über Aplerbeck empfohlen. Während dieser noch in der U-Bahn saß, die gerade am Vahleweg von der B1 auf die eingleisige Strecke entlang der Marsbruchstraße in Richtung Aplerbeck abbog, war Sabine schon in Hörde ausgestiegen. Schnell kaufte sie im Drogeriemarkt noch eine Packung Kondome, dann stieg sie in den Bus nach Berghofen.

Als derweil Rotkäppchen in Aplerbeck ankam, stellt er fest, daß der Bus nach Berghofen gerade abgefahren war. Fast eine halbe Stunde musste er warten, bis der nächste kam. In der Zwischenzeit hatte sich Sabine mit Fingerfertigkeit und einer alten Kreditkarte Zutritt zu der Wohnung des Großvaters verschafft, sich dort ausgezogen und lag nun im Bett.

Rotkäppchen wunderte sich, daß die Tür zur Wohnung seines Großvaters aufstand, doch Sabine rief mit verstellter tiefer Stimme: "Mein Enkel! Schön daß Du mich besuchst. Ich liege im Bett und fühle mich nicht gut." Sie ahmte ein tiefes, grollendes Husten nach und fuhr fort "Leg Dich doch ein wenig zu mir. Aber zieh vorher diese schreckliche Uniform aus". Rotkäppchen, der sehr wohl wusste, daß seinem Großvater Uniformen gar nicht gefallen, wunderte sich nicht, sondern tat, wie ihm geheißen. Doch kaum war er in das große Bett, in dem sonst drei Personen liegen, gekrochen, merkte er, daß es Sabine war, die da splitternackt unter der Bettdecke neben ihm lag.

Besonders unwohl war Rotkäppchen diese Situation nicht, doch fiel ihm nicht so recht ein, was er sagen sollte. Nachdem er Sabine lange wortlos angesehen hatte, entfuhr ihm der Ausspruch "Oh Sabine, warum hast Du so geile Brüste?". "Damit Du mich besser streicheln kannst" erwiderte Sabine. Doch Rotkäppchen, nun mutiger geworden, hörte gar nicht richtig hin, sondern griff gierig zwischen ihre Beine, "Oh Sabine, warum hast Du da so feuchte Haare?". Sabine gefiel das ungehobelte Gefummel von Rotkäppchen nicht, und so musste sie die Initiative ergreifen, wenn sich nicht die zarten Knospen ihrer Lust wieder schließen sollten. "Damit ich Dich besser vernaschen kann", erwiderte sie, zog dem überraschten Rotkäppchen ein Kondom über und setzte sich auf ihn, um alsbald im erregten Liebesspiel die Position mehrmals zu wechseln.

Aber Rotkäppchen hatte schon lange keinen Sex mehr gehabt. So dauerte es nicht lange, und vorbei war es mit seiner Manneskraft. Rotkäppchen drehte sich zur Seite und fing an zu schnarchen.

Da lag er nun, zufrieden und glücklich, und er schnarchte wie ein Sägewerk. Die unbefriedigt gebliebene Sabine aber zog sich an und sprach zu sich: "Nie wieder will ich mich mit einem Kerl einlassen. Nur wir Frauen wissen, was Frauen wirklich gut tut."

 

 

Zu diesem Text inspiriert hat mich eine kritische Betrachtung des Märchens "Rotkäppchen". In seiner in Deutschland wohl bekanntesten Fassung, die 1812 von den Brüdern Grimm in dem Buch "Kinder- und Hausmärchen" veröffentlicht wurde, ist es gegenüber der urspünglich aus Frankreich stammenden Version wesentlich verändert. Das im Jahr 1697 von Charles Perrault unter dem Titel "le Petit Chaperon rouge" veröffentlichte Märchen hat einen wesentlich stärker sexuell ausgerichteten Inhalt als die spätere deutsche Fassung der Brüder Grimm. Dabei legt sich Rotkäppchen tatsächlich zum Wolf ins Bett, der explizit als "ohne Kleider beschaffen" bezeichnet wird, und bestaunt dessen Arme und Beine. Nachdem der Wolf das Rotkäppchen verspeist hat, endet das Märchen. Eine Bestrafung für den Wolf gibt es in dem französischen Märchen nicht.

Erst in der Erzählung der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mehr als hundert Jahre später ist das Märchen so ausgerichtet, daß das Gute zwingend gewinnen und das Böse verlieren muß: Der Wolf wird auf grausame Weise bestraft, indem sein Bauch von einem zufällig dazukommenden Jäger mit schweren Steinen befüllt wird. Auch erst bei den Grimms steigt Rotkäppchen nicht mehr zum Wolf ins Bett, sondern bleibt züchtig davor stehen. Und während in der Originalfassung der Wolf dem Rotkäppchen arglistig einen längeren Weg empfiehlt, um vor ihm am Haus der Großmutter anzukommen, vertrödelt bei den Brüdern Grimm das Rotkäppchen seine Zeit mit dem Pflücken von Blumen.

Bis zur Großen Strafrechtsreform am 25. Juni 1969 wurden durch den §175 des Strafgesetzbuches in der Bundesrepublik Deutschland jegliche sexuellen Handlungen zwischen Männern unter Strafe gestellt. Noch im Jahr 1962 begründete die Regierung von Konrad Adenauer die Bestrafung von Homosexualität unter erwachsenen Männern mit den Worten "Ausgeprägter als in anderen Bereichen hat die Rechtsordnung gegenüber der männlichen Homosexualität die Aufgabe, durch die sittenbildende Kraft des Strafgesetzes einen Damm gegen die Ausbreitung eines lasterhaften Treibens zu errichten, das, wenn es um sich griffe, eine schwere Gefahr für eine gesunde und natürliche Lebensordnung im Volke bedeuten würde". Menschen mit gleichgeschlechtlichem Liebesempfinden, die Mitte der 50er-Jahre oder früher geboren wurden, haben insbesondere ihre Pubertät in einer Zeit erlebt, in der sie ihre eigenen Gefühle verstecken und verleugnen mussten. Viele Schwule trieb der §175 in den Selbstmord.

Die Lebensformenpolitik der 90er-Jahre wurde vor allem vom Bundesverband Homosexualität (BVH) propagiert. Der traditionelle Ehebegriff einer zwingend aus zwei Menschen verschiedenen Geschlechts bestehenden ausschließlichen Ehe sollte abgelöst werden durch einen von freier Selbstbestimmung bestimmten Ehebegriff, bei dem das Geschlecht und die Anzahl der Personen in einer Ehe nicht gesetzlich reglementiert ist, sondern durch die Wünsche der beteiligten Menschen bestimmt wird. Außerdem sollte es möglich sein, daß eine Person gleichzeitig Mitglied in mehreren Ehen ist.

Der überwiegend in Westdeutschland aktive Bundesverband Homosexualität (BVH) konkurierte mit dem in den Neuen Bundesländern starken Schwulenverband Deutschland (SVD), der die konservative Ehe in ihrer bestehenden Form für Lesben und Schwule öffnen wollte. In der Politik durchgesetzt haben sich die Forderungen des SVD (inzwischen unter dem Namen Lesben- und Schwulenverband Deutschland, LSVD): Zum 01. August 2001 trat in der Bundesrepublik Deutschland das Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft (LPartG) in Kraft, das für Lesben und Schwule eine nach der traditionellen Ehe gerichtete "Homo-Ehe" vorsieht, die ebenso wie die klassische Ehe zwingend auf zwei Personen begrenzt ist, der allerdings im Gegensatz zur heterosexuellen Ehe wesentliche rechtliche und finanzielle Vorteile fehlen. So gibt es für monogame Lesben und Schwule eine "Ehe zweiter Klasse", für Liebesbeziehungen aus mehr als zwei Personen gibt es gar nichts.

Der Christopher-Street-Day ist eine jährliche Parade von Lesben und Schwulen, die auf das Aufbegehren gegen Polizeiwillkür in New York im Jahr 1969 zurückgeht. Seine Blütezeit als politische Demonstration hatte der Christoper-Street-Day in Deutschland in den 80er- und 90er-Jahren. Im Laufe der Zeit wurde er zwar immer bekannter und umfangreicher, aber auch zunehmend unpolitisch. Inzwischen ähnelt er eher einem Kostümfest als einer politischen Demonstration, man kann ihn fast mit dem Rosenmontagszug gleichsetzen. In den 90ern fanden auch in Dortmund – unter Federführung des Kommunikations-Zentrums Ruhr (KCR) und der Dortmunder Aids-Hilfe – Veranstaltungen des Christopher-Street-Days statt. Inzwischen gibt es in Dortmund lediglich noch ein jährliches schwul-lesbisches Straßenfest, zum Christopher-Street-Day fährt man dagegen nach Köln.

Daß Menschen verschiedenen Geschlechts sich nicht verstehen, ist ein beliebtes Thema im deutschen Humor. Der Komödiant und Zeichner Bernhard Victor Christoph-Carl von Bülow, der als Cartoonist Loriot bekannt wurde, prägte den Satz "Männer und Frauen passen einfach nicht zusammen", der auch Titel eines seiner Bücher ist. Daß eine heterosexuelle Frau aus der Disharmonie mit einem Mann die Konsequenz zieht, nur noch Frauen zu lieben, gibt die Illusion wider, man könne das Gefühlsleben durch den Verstand steuern. Dieser Illusion unterliegt insbesondere die durch ihre Zeitschrift Emma bekannte Feministin Alice Schwarzer, wenn sie in ihren Artikeln Frauen auf den Geschlechterkrieg und den Kampf gegen Pornographie einschwören will. Ihr wohl bekanntestes Zitat ist der in der Emma 2/1991 veröffentlichte Satz "Weiblicher Masochismus ist Kollaboration".

Die im Text erwähnten Fahrzeiten entsprechen dem Fahrplan des Jahres 2007 an Werktagen: Die Buslinie 438, die von Aplerbeck nach Berghofen fährt, fährt in Aplerbeck auf die Minutenwerte 28 und 58 ab. Die U-Bahn der Linie U47 aus der Innenstadt kommt in Aplerbeck alle zehn Minuten zur Endziffer 1 an. Sitzt man ausgerechnet in der Bahn, die in Aplerbeck zur Minute 01 oder 31 ankommt, so dauert es 27 Minuten, bis der nächste Bus der Linie 438 nach Berghofen fährt. Wer ortskundig ist, wird statt zu warten die Linie 439 nehmen, deren Busse nach einem Umweg durch die Aplerbecker Mark ebenfalls nach Berghofen fahren. Der Ortsunkundige wird aber vermutlich auf die nächste Abfahrt der direkt nach Berghofen führenden Linie 438 warten.

Laut Fahrplan bedient die Linie U47 Richtung Aplerbeck exakt zu derselben Minute die Haltestelle Vahleweg, zu der die sechs Minuten nach der U47 am Hauptbahnhof abfahrenden Züge der Linie U41 in Hörde ankommen. Von Hörde verkehren die Buslinien 430 und 439 auf identischem Linienweg Richtung Berghofen, wodurch sich ein 15-Minuten-Takt ergibt.


 
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